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Lesematerialien

Uwe Findeisen / Gisela Melenk

Gestaltungsformen von Lesematerialien als Lesehilfen

Vorbemerkung

Die gängige Vorstellung über den Prozess des Lesenlernens besagt, dass das Lesen als Entschlüsselung grafischer Zeichen mit dem Ziel der Sinnentnahme zu verstehen sei, und dass dieser Prozess wesentlich durch die Sinnerwartung gesteuert werde. Nun lernen sicher viele Kinder mit dem nach diesem Erfahrungsansatz gestalteten Lesetexten das Lesen. Was ist aber mit den Kindern, die mit der Leseerwartung und ihrer Phantasie nicht zum korrekten Lesen kommen? Was ist, wenn Kinder ihre Sinnerwartung nur an einem Teil eines Wortes prüfen und z. B. ein mit Sch beginnendes Wort gleich mit dem bekannten Wort Schule identifizieren? Was ist mit Kindern, die stockend lesen und durch dieses unmelodische Lesen nicht zu einer Sinnentnahme kommen? Für diese Kinder kann die Leseerwartung nicht das Lesen steuern. Sie müssen erst zu einer Lautgestalt des Wortes kommen, die es ermöglicht, dieses mit ihrem aktiven Wortschatz zu vergleichen, und so den Sinn zu erfassen. Ausgangspunkt der Fragestellung ist daher das Problem, wie bei leseschwachen Kindern die Wortgestalt in eine melodische Sprachgestalt übertragen wird und welche Gestaltungsformen bei Wörtern, Sätzen und Texten als Lesehilfe zur leichteren Erfassung der melodischen Sprachgestalt und damit der Sinnerfassung dienen können.

Die Alphabetschrift ist eine Lautschrift und der Sinn an die Lautgestalt gebunden

Wenn man vom Lesenlernen spricht, dann ist unbestritten, dass es um den Sinn geht, der beim Lesen erfasst werden soll. Sätze so zu drucken, dass nach einem Sinnschritt eine neue Zeile beginnt, gilt als die wichtigste optische Hilfestellung, die das Lesen von Sätzen und Texten erleichtert. Betrachtet man aber, wann Sinnerfassung beim Lesen beginnt, so muss man beim einzelnen Wort ansetzten. Schon das Lesen einzelner Wörter enthält alle Qualitäten eines sinnerfassenden Lesens, und es stellt sich auf dieser Ebene die Frage, wie beim Lesen z.B. des Wortes Sonne die Sinnerfassung optisch unterstützt werden kann.

 

Verdeutlicht wird das durch folgende Phänomene. Kinder erlesen auf einer bestimmten Stufe ihres Lernprozesses die Wörter in sogenannten Vorformen: aus Sonne wird So: ne:. Oder es wird die Silbengrenze falsch erfasst. Man kennt das Wortbeispiel Blu-men-to-pfer-de. Es ist die Stufe der alphabetischen Strategie, der Lautentschlüsselung ohne direkte Bedeutungserfassung. Erst nachträglich wird versucht, dem Wort die Lautgestalt zu geben, die es dem Sinnverständnis zugänglich macht: Blumen-topf-erde (vgl. Scheerer-Neumann 1990, S. 111). Oder Kinder setzen das Wort in eine ihrem eigenen Verständnis passende Form: aus Wal wird Wwa: Wa: l gelesen und dann Walfisch gesagt. Ebenso sind die Leseweisen bekannt, in denen ein Wortteil erlesen wird und der Rest geraten wird.

Die lesen lernenden Kinder müssen die Zeichen als Laute und deren Reihenfolge als melodisches Wort sprechen, um ihnen eine verstehbare Form zu geben. In der gesprochenen Vorform aber fehlt das Melodische, wie die obigen Beispiel zeigen. Bosch hebt diesen Gesichtspunkt hervor: „In der Schrift wird von dem Musikalischen des Einzelwortes abgesehen, es kommt nicht zum sichtbaren Ausdruck, vielmehr stehen die einzelnen Wörter gleichgewichtig nebeneinander, und auch die musikalische Komponente der Sprachsatz-Gestalt tritt nicht in Erscheinung. So ist das Schriftbild von einer gewissen abstrakten Armut.“ (Bosch 1984, S. 111) Die Kinder erlesen daher eine Wort-Vorgestalt, die nach dem Erlesen durch die lautliche Modulation in eine Form gebracht wird, in der dann das Aha-Erlebnis der Sinnerfassung stattfindet. Die Sinnerfassung beim Lesen von Wörtern ist also an die melodische Lautung gebunden.

 

Bosch formuliert daraus die Aufgabe: „Derjenige Leseunterricht erfüllt offenbar seine Aufgabe am besten, der das Kind methodisch befähigt, in möglichst kleinem Sprung von der Vorgestalt zur lebendigen Sprachgestalt zu gelangen.“ (Bosch 1984, S. 80)

Die Augenbewegung wird funktional für die Lautgestalt entwickelt

Wenn Kinder zum Lesen einen gleichen Text vorliegen haben, dann kann man dennoch nicht davon ausgehen, dass sie alle das Gleiche sehen. Alle Leser bewegen ihr Auge von einer Fixation mit einem Sprung (Sakkade) zu einer neuen Fixation, aber bei langsamen Lesern sind die Blickziele anders als bei guten. Sie zeigen Schwankungen in der Schnelligkeit der einzelnen Fixationszeiten, Ungenauigkeiten beim Treffen eines Blickziels und eine größere Unruhe bei der eigentlichen Fixation (vgl. Biscaldi/Otto 1993, S. 97). Drei Unterschiede, die man unmittelbar als Beobachter nicht wahrnimmt.

 

Was kann überhaupt das lesende Auge von einer Zeile erkennen? Das Sehzentrum, die Fovea, umfasst einen Durchmesser von 2 Winkelgrad, die das Zentrum umgebende Parafovea 4 Winkelgrad und die Peripherie ca. 20-25 Winkelgrad. Das Auge sieht wie ein gleichförmiger „Scheinwerfer“. Im Zentrum sieht es eine Anzahl von 5 bis 7 Buchstaben scharf, kann aber bei einer sinnvollen Wortfolge bis ca. 22 Buchstaben in einer Fixation erfassen. Eine Fixation dauert ca. 150-500 ms, abhängig von der Lesefertigkeit und dem Schwierigkeitsgrad des Textes. Bei einer sinnvollen Wortfolge übernimmt man also Informationen aus dem „Unschärfebereich“. Neben der Fixation gibt es das Zurückblicken, die Refixationen, dann wenn die Information nicht zu einem Verständnis ausreichte. Beim Textlesen finden weniger Refixationen statt als beim Lesen einer Wortliste, da die Kontextinformation des Textes die periphere Vorverarbeitung, das Worterkennen erleichtert (vgl. Nazir-Jacobs 1991, S. 47).

 

Außerdem gibt eine Asymmetrie des Sehens: man sieht links weniger Buchstaben als rechts. Diese Asymmetrie ist angelernt (vgl. Nazir-Jacobs 1991, S. 182). Hebräische Leser, die von rechts nach links lesen, haben eine Asymmetrie in die andere Richtung. Bei der Wahrnehmung von Einzelbuchstaben und Objekten schaut man dagegen symmetrisch. Das asymmetrische Lesen sucht also einen Blickpunkt bei Wörtern, der für das Lesen optimal ist. Dieser liegt links von der Wortmitte, also in einem Bereich, in dem der Wortanfang besser erfasst wird. Dieses für das Lesen charakteristische asymmetrische Sehen lässt sich damit erklären, dass eine Position gesucht wird, die die Sprechbarkeit des Wortes erlaubt. In der Regel sind das der Anfang oder die ersten zwei Silben eines längeren Wortes. Zugleich muss so viel Buchstabeninformation rechts gesehen und gedanklich zugeordnet werden, dass die Silben- und Wortübergänge fließend gesprochen werden können.

 

Da diese Bewegungsform von Fixation, Sakkaden, Refixation und der Ausrichtung in der Zeile keine natürliche ist, sondern gelernt wird, kann sie auch nicht bei allen Schülern vorausgesetzt werden. Langsame Leser haben eine Schweifbewegung von Auffälligkeit zu Auffälligkeit, häufige Refixationen, Verlust der Ausrichtung, die sich in Zeilensprüngen oder Wortsprüngen zeigen. Die Augenbewegung von Legasthenikern ist z. B. fast zufällig und ohne Reihenfolge und die Fixationen erfolgen in übermäßiger Anzahl (vgl. de Groot 1988, S. 390; Gutezeit 1994, S. 12).

 

Bei langsamen Lesern oder Legasthenikern ist die Augenbewegung nicht durch eine Beeinträchtigungen der Augenmuskulatur bedingt. Sie ist eher wie eine fehlgerichtete Wahrnehmung anzusehen. Behoben werden kann sie nur mit Leseübungen, da nur das Lesen eine Augenbewegung verlangt, die durch die Führungstätigkeit der Lautsprache gelenkt wird. Erst wenn ein Wort lautlich und damit sinnverstehend erfasst ist, kann man der Augenbewegung die nächste Fixation freigeben. Für die Steuerung der Augenbewegung innerhalb des Wortes sind Informationen über die Abgrenzung des Wortes zum nächsten entscheidend (vgl. Müller/Heller 1990, S. 81). Im anderen Fall refixiert man oder schweift umher. Ein Blickbewegungstraining isoliert von der den Blick führenden Lautgestalt wird daher aufs Lesenlernen kaum Einfluss haben.

Erste Gestaltungsmerkmale: Schriftgröße – Schriftart – Zeilenabstand

Um innerhalb eines Wortes die optimale Blick-Sprechposition zu finden, ist die Wortgrenze zwischen den Wörtern durch große Zwischenräume zu gestalten, und Worttrennungen sind am Zeilenende zu vermeiden.

 

Um die Buchstaben eines Wortes scharf zu sehen, sind kurze Wörter mit 4 bis 6 Buchstaben besser zu erfassen als lange Wörter. Es empfiehlt sich, lange Wörter in Silben zu schreiben.

 

Um das Schweifen des Blicks zu verhindern und das zielgerichtete asymmetrische Sehen zu lernen, ist die Leserichtung zu kennzeichnen. Ein gedruckter Pfeil in Leserichtung oder die Benutzung des Fingers als Lesehilfe ist sinnvoll. Ein Lesefenster mit einem großen weißen Rahmen schränkt das Umherschweifen des Blicks ein (vgl. Gutezeit 1994, S. 17).

 

Als Schriftart ist eine Schrift ohne Querstriche (Serifen) und für die Klassen 1 bis 4 jeweils eine Schriftgröße zwischen 18 Punkt und 12 Punkt lesefreundlich (vgl. Sennlaub 1989, S. 51).

 

Die im folgenden Text aufgeführten Leseübungen dienen als verdeutlichende Beispiele für das Gesagte. Sie sind alle den Lauttreuen Leseübungen (Findeisen, Melenk, Schillo 1988, Teil I, II) entnommen. Es bleibt dem Lehrer und Lerntherapeuten überlassen, die vielen Fibeln und Leselehrgänge unter dem Gesichtspunkt der optischen Lesehilfen zu bewerten.

Wort Lautgestalt Sinn

„Die Sinnerwartung (…) des Lesers ersetzt nicht die visuelle Analyse der Schrift und ihrer Details.“Sonne eine Sonne malen. An die Stelle der Lautschrift träte die Bilderschrift. Ebenso darf man zur Bestimmung des sinnerfassenden Lesens nicht den Inhalt des zu lesenden Wortes voraussetzen, dann wäre es nicht das Lesen eines neuen Wortes. Es soll aus der Buchstabenfolge ein Sinn erlesen werden. Dafür muss die Buchstabenfolge in die Lautform übersetzt werden, und diese Lautform muss auf das Niveau des melodisch gesprochenen Wortes gebracht werden. (Brügelmann 1989, S. 106) Den Sinn eines Wortes kann man nicht an den Buchstaben graphisch gestalten; er ergibt sich aus der Lautform. Wollte man den Wortinhalt selbst optisch darstellen, müsste man zum bildlichen Darstellen übergehen und neben das Wort

 

Man kann nur die Lautform graphisch unterstützen. Ein Wort hat eine Melodie, es hat betonte und unbetonte Silben, es hat in der betonten Silbe einen langen oder kurzen Vokal, und erst wenn die Buchstabenfolge „gesungen“ wird, dann ist die Bedeutungserfassung erfolgt. Silben und betonte Vokale lassen sich als optische Lesehilfe nutzen.

Die Silbenform

Man weiß, dass es verschiedene Gliederungen von Wörtern gibt: Morpheme, Signalgruppen, Silben usw. Die Silbe ist für das Lesenlernen die wichtigste, da sie der Sprechbewegung entspricht. „Dass die Morphologie jedenfalls bei den Alphabetschriften nicht diese Rolle übernimmt, dürfte wohl mit dem abstrakten Status morphologischer Einheiten zusammenhängen. In flektierenden Sprachen haben die morphologischen Einheiten keine konkrete Entsprechung auf der Lautebene. Eine direkte Zuordnung phonologischer Segmentfolgen zu morphologischen Einheiten ist nur partiell möglich.“ (Butt/Eisenberg 1990, S. 57; vgl. Gutezeit 1986, S. 201) Sprechsilben dagegen sind konkrete Einheiten. Silbenzahl und Lage der Silbengrenzen sind für den Sprachbenutzer transparent, weil sie unmittelbar wahrnehmbar sind. Die Schreibsilbe hat deshalb eine so zentrale und stabile Stellung in unserem Schriftsystem, weil jeder Schreibsilbe eine Sprechsilbe zugeordnet werden kann (vgl. Butt/Eisenberg 1990, S. 58) Die syllabische Struktur ist für den lautlichen Aufbau am wichtigsten.

Die Betonung

Im Stufenmodell des Lesenlernens weist Scheerer-Neumann (1990) auf die Schwierigkeit hin, dass bei der alphabetischen Strategie der funktionale Ort der Sinnentnahme offen bleibe. „Gerade die Interaktion zwischen Erlesen und Bedeutungsentschlüsselung ist jedoch auf der alphabetischen Stufe kritisch.“ (Scheerer-Neumann 1990, S. 110) Lösbar ist diese kritische Stelle durch die Sprechdynamik. Man kann davon ausgehen, dass die Verknüpfung gerade in der Umsetzung der Buchstabenfolgen zu einer syllabischen Einheit und der richtigen Betonung zu einer normalen Sprachgestalt liegt. Lesen von Wörtern ist sinnerfassend, wenn es statt der Vorform sofort die betonte Sprachform erfassen kann. Mit dem Erkennen der richtigen Betonung stellt sich unmittelbar die Bedeutung ein. Als optische Hilfe kann man die Länge und Kürze der Vokale kennzeichnen. Silbengliederung und Kennzeichnung der Betonung ist also die optische Form der Erleichterung des sinnerfassenden, weil an die Lautgestalt gebundenen Wortlesens (vgl. Findeisen/Melenk/Schillo 1995, S. 148).

Gestaltungsformen für die Silbenstruktur und die Betonung im Wort

Auf der Stufe des Wortlesens sollen die Wörter zweisilbig sein und einen langen Vokal haben. Es sind Wörter mit einfacher Silbenbauart (vgl. Balhorn 1989, S. 5). Der Trennungsstrich kann als graphische Hilfe gesetzt werden, wenn der Zwischenraum zwischen den Wörtern groß gehalten ist, damit er als innere Wortgliederung erfasst wird. Auf einer späteren Lesestufe sind Silbenbögen als Lesehilfen möglich (vgl. Brügelmann 1989, S. 149).

 

Die Vokale werden entsprechend ihrer lautlichen Qualität verschieden gekennzeichnet. „Auf den unterschiedlichen Lautwert von Schriftzeichen werden die Schüler frühzeitig dadurch aufmerksam gemacht, dass die kurzen Vokale heller gedruckt werden als die lange Variante.“ (Brügelmann 1989, S. 107) Man kann auch einen Punkt unter den kurzen und einen Strich unter den langen Vokal setzen (vgl. Kossow 1991, S. 91).

 

Zur Unterscheidung zwischen der betonten und unbetonten Silbe wird der Fettdruck benutzt (vgl. Gutezeit 1986, S. 201). Zur Bewusstmachung der Wortmelodie von betonter und unbetonter Silbe kann jeweils in der Zeile über dem Wort in Anlehnung an die Form von Musiknoten die Tonhöhe mit einem Notenzeichen gekennzeichnet werden (vgl. Blumenstock 1983, S. 61).

 

Die Silbenenden der offenen und der geschlossenen Silben bei lauttreuen Wörtern sind durch Fettdruck zu kennzeichnen, da sie auch einen Bezug auf die Betonung haben. Die offene Silbe endet auf einem Vokal, der lang ist, die geschlossene Silbe endet auf einem Konsonant und enthält in zweisilbigen Wörtern einen kurzen Vokal (von einsilbigen Wörtern und Ausnahmen ist hier abzusehen). Hierbei kann man auf die Idee von Alliger zurückgreifen, die Lautschrift als Farbschrift zu kennzeichnen (vgl. Alliger, S. 240f). Den Vokalen und Konsonanten wird eine Hauptfarbe zugeordnet, so dass man durch die Abfolge der Farben eine lautliche Struktur erkennen kann (vgl. Gutezeit 1994, S. 17).

 

Wortlisten mit wiederkehrenden Silben (Leder, Feder, Puder, Luder usw.) sind sinnvoll, um die Rhythmik von betonter und unbetonter Silbe zu lernen.

 

Im folgenden Beispiel wird durch die gleiche Endsilbe die Konzentration auf die betonte Silbe am Wortanfang gelenkt, daneben auf die Vielfältigkeit der Endsilben. In beiden Fällen ist die Unterscheidung von betonter und unbetonter Silbe das Lernziel.

 

 

Die Leseerwartung auf der Wortebene

Auf den aktiven Spracherfahrungswortschatz der Kinder wird dann beim Lesenlernen zurückgegriffen, wenn man die Leseerwartung verbessern will. Die Sinnerwartung jedoch ersetzt nicht die Lautanalyse, sie hilft nur, diese zu verschnellern. „Die Sinnerfahrung und die Spracherfahrung des Lesers ersetzt nicht die visuelle Analyse (…). Aber bereits die visuelle Analyse der Schrift wird durch sinnbezogene Deutungsversuche des Lesers beeinflusst. So dauert die Fixation derselben Schriftzeichen je nach Vertrautheit des Wortes, in dem sie stehen, unterschiedlich lang.“ (Brügelmann 1989, S. 106) Ein Vorwissen, aus dem sich die Leseerwartung ergibt, ist selbst nicht als Lesefertigkeit zu bezeichnen, denn diese bezieht sich immer auf etwas Neues, was in der Leseerwartung wenn überhaupt nur als Möglichkeit enthalten ist und immer erst durch das wirkliche Lesen kontrolliert wird. Die Erwartung ist dadurch gegeben, dass der „Austausch“ zwischen Leser und Lesetext seinen Beweggrund in einem unterschiedlichen Wissen hat. Der Satz enthält das Wissen, das der Leser noch nicht hat. So lässt z. B. des Lesen des Subjekts „Der Nil“ viele Möglichkeiten offen. Eine der Möglichkeiten wird Wirklichkeit, sobald das Prädikat „steigt“ gelesen wird. Die Erwartung ist gelöst. Bei einem längeren Satz wird das Prinzip noch deutlicher. Erst am Ende kann über den Sinn des Satzes entschieden werden (vgl. Deutsche Sprache 1980, S. 164). Die Leseerwartung steht also in einem sekundären Verhältnis zum Lesen und Lesenlernen. Zur Verbesserung der Leseerwartung gibt es viele Vorschläge (vgl. Wespel 1998, S. 6ff).

 

Auf der Stufe des Wortlesens kann man über die gelesenen Wörter reden, Sätze mündlich bilden und Lesetexte für die Stufe des Satzlesens erstellen, in denen auf diese Gespräche Bezug genommen wird.

 

Anbahnungen von Satzlesen bei noch bestehendem Wort-für-Wort-Lesen

Bevor man lange Sätze lesen lässt, ist der Übergang vom Wort- zum Satzlesen anzubahnen.

Noch auf der Stufe des Wort-für-Wort-Lesens wird durch diese Form über die Einzelwortbedeutung hinausgegangen und ein größerer Sinnzusammenhang dargestellt. Innerhalb der Wörter können weiterhin alle graphischen Gestaltungsformen benutzt werden. Die Wörter sind nach Wortgrenzen gut zu erfassen, und durch die Zeile wird die Blickrichtung aufgebaut. Das Auge lernt, von einem Wort zum anderen zu springen und sich die Bewegungsrichtung anzueignen. Die Ein-Wort-Zeile, Satztreppe und die Überschau-Zeile sind graphisch noch am einzelnen Wort orientiert:

Da Da Da________ist

ist ist der_______kleine

der der Tom.

kleine kleine

Tom. Tom.

(vgl. Findeisen/Melenk/Schillo 1995, S. 154)

 

Sinnschrittgliederung nach Satzarten

Wenn in Leseübungen die Sinnschritte eingeführt werden, dann ist es sinnvoll, verschiedene Aussageformen zusammenzufassen, um dadurch ein Bewusstsein über diese formalen Kriterien der Sinngliederung zu schaffen.

 

Die Differenzierungen sollten sich an folgenden Satzformen orientieren:

Satzform Gelenkwörter Satzbeispiel

Einfache Zustandssätze ist, sind Da ist…

Einfache Haben-Sätze hat, haben… hat ein Auto.

Einfache Tätigkeitssätze malt, ruft Nina malt ein …

 

Sätze mit Präpositionen schauen auf Ich schaue auf …

 

Danach folgen erweiterte Sätze mit Objekt, Attribut und Adverb (vgl. Bethlehem 1984, S. 98; Deutsche Sprache 1980, S. 158ff).

Die Kurzsätze nach den obigen Differenzierungen erlauben durch die Wiederholung des gleichen Strukturaufbaus, über die formalen Kriterien des Satzes Sicherheit zu schaffen und durch die Leseübungen die Grundformen für spätere Sinnschrittgliederungen in Texten zu lernen. Die Sätze sind so aufgebaut, dass ein Teil gleich bleibt. Die gleichbleibenden Wörter erhalten die Funktion von Gelenkwörtern, um die herum die Satzaussage jeweils änderbar ist.

Wenn diese Grundformen erlesen werden, wird durch Wortumstellungen die Zusammengehörigkeit von Teilaussagen, also von Sinnschritten eingeübt.

 

Die Kinder In der Schule Lesen und Schreiben

lernen lernen lernen

in der Schule die Kinder die Kinder

Lesen und Schreiben. Lesen und Schreiben. in der Schule.

 

Sinnschritte in Kurzzeilen oder Überschauzeilen

Ist der Leseprozess so stabil, dass die Wiederholungen von Satzgliedern nicht mehr notwendig sind, wird die Sinnschrittgliederung in jeweils neuen Sätzen angewandt. Gestaltungsformen sind die Kurzzeile und die Überschauzeile.

 

Nina malt Nina und Tom malen

mit dem Pinsel mit den Pinseln

ein buntes Haus. zwei bunte Häuser.

 

Nina malt mit dem Pinsel ein buntes Haus.

Nina und Tom malen mit den Pinseln zwei bunte Häuser.

(vgl. Grissemann 1984, S. 319ff)

Die Sinnschrittgliederung im Satz erfolgt nach inhaltlichen Kriterien. Gleichzeitig entsteht eine formale Redundanzstrategie, eine Leseerwartung auf der Satzebene, die durch den grammatischen Zusammenhang bestimmt ist und neben den Wortarten und ihren Funktionen an den Beugungsformen ihren Zusammenhang erkennen lässt. Die Kongruenzen, die sich an den Beugungsformen der Wörter zeigen, erleichtern das Lesen eines Wortes, weil man sich z.B. der Endungen durch die eigene Sprachkompetenz sicher ist. Somit ist die Sprachkompetenz wieder ein Moment der Verbesserung der Leseflüssigkeit.

 

Als weitere Übungsformen zum Erlernen von Sinnschritten lassen sich u. a. anführen:

Gestaltungsformen in Texten

Bei Texten sind alle Formen der Sinnschrittgliederung für die Satzform einsetzbar. Bei zusammenhängenden Sätzen kommt noch eine größere Sinneinheit hinzu: das Thema und seine Ausführung. Die Syntax enthält zusätzliche Bestimmungen wie Zeitenfolge und Kongruenz zwischen allen Satzteilen, die sich nun auf die Satzverflechtung beziehen. Daher sind die optischen Lesehilfen über die Zeilengliederung hinaus nun als Textgliederung zu beachten. Diese optischen Lesehilfen müssen zugleich Ruhestellen sein für die Aktivierung des Vorwissens, der Leseerwartung als ständige sekundäre Leistung zur Lesefertigkeit.

 

Sinnschrittgliederungen durch Zeilenwechsel

Die Zeilenordnung von Texten sollte nicht in Blocksatz, sondern in Flattersatz gedruckt werden. Dabei ist die Auswahl der Sinnschritte vom Lesestand abhängig. Ein Leseanfänger wird kleinere Sinnschritte bevorzugen, was bei besser lesenden Kindern nicht mehr so wichtig ist.

Sinnschrittgliederung durch Satzzeichen

Jeder Satz hat einen Gegenstand und eine Aussage, die den Gegenstand näher bestimmt. Der Hauptakzent liegt grundsätzlich im Komplex dieses näher Bestimmenden. Z. B.: Er `liest. Die Satzintonation drückt verschiedene Satzkategorien aus: einfache Aussage, Frage, weiterweisender Ausspruch. Die Intonation zeigt auch Gefühlsunterschiede: Freude, Angst, Ungläubigkeit, Erschrecken usw. Die Intonation hat eine außerordentliche Bedeutung für das feinere Verständnis einer Sprache. Das Grundmuster ist die abfallende Intonation zum Satzende. Sie gilt für Aussagesätze, Befehlssätze, Wortfragen. Ansteigen der Tonhöhe gilt bei Entscheidungsfragen und Nachfragen (vgl. Wängler 1983, S. 205ff). Satzzeichen (Punkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Komma, Semikolon, Doppelpunkt, Klammern, Gedankenstriche, Anführungszeichen) gehören zu den Mitteln, die zur Bildung von Wortgruppen und Sätzen dienen, sie sind also syntaktische Mittel (vgl. Deutsche Sprache 1980, S.177). Sie sichern die Einheitlichkeit und die Gliederung des Satzes und seiner Bestandteile. Die Schlusszeichen markieren das Satzende und haben zusätzlich die Funktion, die Satzintention zu markieren. Es sind also Formmittel mit semantischer Aufgabe. Ein Punkt zeigt den Abfall zum Spannungsnull an. Das Fragezeichen als Schlusszeichen führt ebenfalls eine bestimmte Satzintention. Es gibt zwei Zeichen, um die innere Gliederung einer Satzgemeinschaft durch Pausen zu markieren: Komma und Semikolon. Das Semikolon bedeutet eine entscheidende Stauung, das Komma kann überspielt werden. Auch der Gedankenstrich enthält einen semantischen Effekt die Vorbereitung auf etwas Unerwartetes oder zur Erhöhung der Spannung (Plötzlich ein gellender Schrei!) (vgl. Behrens 1989, S. 14ff). Die Satzzeichen drücken eine Sinnschrittgliederungen aus. Gerade wegen ihrer Sinnschrittgliederungs-Funktion ist es für das Lesenlernen erschwerend, dass mit der Rechtschreibreform das Komma vor „und“ und erweitertem Infinitiv nicht mehr Standard ist.

Gesamttextgliederung nach Schlüsselpassagen

Für das sinnerfassende Lesen von Texten ist nicht nur die Sinnschrittgliederung im Satz wichtig, sondern die Gliederung nach Schlüsselpassagen zum Verständnis des gesamten Textes (vgl. Grissemann 1984, S. 325ff). Schlüsselwortpassagen sind Wörter oder Wortgruppen, in welchen sich eine Erzählung, eine Geschichte, ein Nachrichtentext dynamisch ballt. Es steht über dem satzorientierten sinnschrittweisen Erfassen und zielt auf die Erfassung des Gesamttextes in seiner sachlichen Aussage. Die Schlüsselwortpassagen sind nicht die Summe aller Sinnschritte im Text, sondern inhaltliche Stichwörter. In der Regel lassen sie sich durch Unterstreichung, farbige Untermalung oder Kursivdruck hervorheben. Sie geben praktisch den Inhalts-Baum der Geschichte ab.

Textumgebende Hilfen zur Eingrenzung der Leseerwartung

Das Aktivieren des Vorwissens als Leseerwartung durch hinweisende, zusammenfassende und das Thema angebende und damit eingrenzende Zusätze hilft bei der Konzentration auf das Lesen des Textes. Diese sollte man vorher besprechen und sich so die Grundlage schaffen, dass alle Kinder mit einem ähnlichen Vorwissen an den Text herangehen. Dabei helfen folgende Formen:

Überschriften des Textes besprechen

  • Marginalien an der Seite des Textes, die auf das Thema des jeweiligen Abschnitts verweisen, vorher lesen
  • vorangestellte Zusammenfassungen erstellen, um der Leseerwartung einen Rahmen zu geben
  • vorangestellte Leitfragen helfen, das Ziel des Lesens besser vorzubereiten

(vgl. Schneider/Walter 1991, S. 42ff)

 

Sinnverstehende Fragen am Ende eines Textes dienen nicht dem Aufbau einer Leseerwartung, sondern sind der Gesamttextgliederung nach Schlüsselpassagen zuzuordnen.

Da der Prozess des Lesenlernens bei Kindern nicht gleichmäßig und gleichzeitig abläuft, ist die Gleichsetzung von Lesestufen und Klassenstufen problematisch (vgl. Dehn 1990, S. 97ff). Entsprechend dem individuellen Lesestand der Kinder sollte in der Klasse für jede Lernstufe Lesematerial vorhanden sein und im differenzierten Unterricht auch eingesetzt werden können. Lerntherapeuten wissen, dass auch gutes Übungsmaterial im Rahmen von ständigem Leistungsvergleich eingesetzt den Leistungsdruck der Schule nicht abschaffen wird. Deshalb findet die Hilfe für den individuellen Leselernprozess in einer Lerntherapie nicht unter solchen leistungsvergleichenden Lernbedingungen statt.

Literaturliste

ALLIGER, G. : Das Alliger-Schriftspracherwerbssystem. In: Dummer, L. : Legasthenie. Hannover 1986, S. 240-243

Balhorn, H. : Reading is Fundamental. In: Die Grundschulzeitschrift 22/1989, S. 4-11

Behrens, U. : Interpunktion als Markierung syntaktischer Konstruktionen. In: Eisenberg, P. / Günther, H. (Hrsg.): Schriftsystem und Orthographie. Tübingen 1989, S. 11-22

Bethlehem, G. : Praxis des Lesenlernens: Methodengeschichte Methodenkritik aktuelle Probleme und Lösungen. Düsseldorf 1984

Biscaldi, M. /Otto, P. : Legasthenie und Augenmotorik. In: Legasthenie. Berlin 1993, S. 97-98

Blumenstock, L. : Handbuch der Leseübungen. Weinheim und Basel 1983

Bosch, B. : Grundlagen des Erstleseunterrichts. In: Forschungsbeiträge zur Grundschulreform Band 8. Frankfurt am Main 1984

Brügelmann, H. : Kinder auf dem Weg zur Schrift. 3. Auflage, Konstanz 1983

Brügelmann, H. : Die Schrift entdecken. Konstanz 1984, 2. erweiterte Auflage 1986

Butt, M. / Eisenberg, P. : Schreibsilbe und Sprechsilbe. In: Stetter, Ch. (Hrsg.): Zu einer Theorie der Orthographie. Tübingen 1990, S. 34-60

de Groot, R. : Die Beziehung zwischen Saccadischen Augenbewegungen und Lese-Rechtschreibproblemen in der Schule. In: Dummer-Smoch, L. : Legasthenie. Hannover 1988, S. 381-399

Dehn, M. : Die Zugriffsweisen „fortgeschrittener“ und „langsamer“ Lese und Schulanfänger: Kritik am Konzept der Entwicklungsstufen. In: Sandhaas, B. / Schneck, P. (Hrsg.): Lesenlernen Schreibenlernen. Bregenz 1990, S. 97-108

Deutsche Sprache. Handbuch für den Sprachgebrauch. Hrsg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von H. Liebsch und H. Döring. 3. Auflage, Leipzig 1980

Dummer-Smoch L./Hackethal, r. : Kieler Leseaufbau, Kiel 1989

Findeisen, U. / Melenk, G. / Schillo, H. : Lauttreue Leseübungen: 50 Kopiervorlagen. Teil I: Buchstaben, Buchstabengruppen, Silben, Wörter und Sätze. Teil II: Buchstabengruppen, Silben, Wörter, Sätze und Texte. Bochum 1988

Findeisen, U. / Melenk, G. / Schillo, H.: Lesen lernen durch Lauttreue Leseübungen. 3. Auflage, Bochum 1995

Grissemann, H. : Mehrdimensionale Legasthenietherapie auf der Sekundarstufe. In: Dummer, Lisa: Legasthenie. Hannover 1984, S. 303-328

Gutezeit, G. : Neuropsychologische Aspekte des Lesenlernens. In: Dummer, L. : Legasthenie. Hannover 1986, S. 189-204

Gutezeit, G. : Visuelle Störungen beim Lesenlernen. In: LRS, Zeitschrift des BVL, 4/1994, S. 10-17

Kossow, H.J. : Leitfaden zur Bekämpfung der Lese-Rechtschreibschwäche. Übungsbuch. 2. Auflage, Berlin 191

Müller, P. / Heller, D. : Was machen die Augen beim Lesen? In: Brügelmann, H. / Balhorn, H. (Hrsg.): Das Gehirn, sein Alfabet und andere Geschichten. Konstanz 1990, S. 79-89

Nazir-Jacobs, T. A.: Zum Phänomen der optimalen Blickposition im Wort: Untersuchung des Einflusses visueller Faktoren auf die Erkennung geschriebener Worte. Würzburg 1991

Scheerer-Neumann, G. : Entwicklungsverläufe beim Lesenlernen im offenen Unterricht. In: Sandhaas, B. / Schneck, P. (Hrsg.): Lesenlernen Schreibenlernen. Bregenz 1990, S. 109-116

Schneider, K. / Walter, U. : Lernfördernde Gestaltung von Bild und Textmaterialien für den Gesundheitsbereich. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1991

Sennlaub, G. : Texterleichterungen Unterwegs zum Polarstern. In: Die Grundschulzeitschrift 22/1989, S. 51-53

Wängler, H.-H. : Grundriß einer Phonetik des Deutschen. Marburg 1983

Wespel, M. : Wie wird mein Kind zum Leser? München 1998

 

Adresse der Autoren:

Uwe Findeisen M.A., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut

Gisela Melenk M.A., integrative Lerntherapeutin im Fil

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Institut für Legasthenie und Lerntherapie, Rathausgasse 11, 53111 Bonn